Die Regeln für Trinkgeld sind nicht in Stein gemeißelt. Wie alles andere unterliegt das monetäre Service-Dankeschön Trends, sozialem Druck und nicht zuletzt auch der Digitalisierung. Derzeit verspüren viele eine gewisse „Tringeldmüdigkeit“.
Wer viel in Ländern unterwegs ist, wo bereits bargeldlos bezahlt wird, kennt es bereits: Immer öfter fragt das Kartenlesegerät oder das Tablet vorzugsweise in Restaurants, Cafés und bei anderen Dienstleistungen, wie viel Trinkgeld man denn geben möchte: 10, 15 oder gar mehr Prozent?
Natürlich wird niemand dazu gezwungen, auf diese Aufforderung zu reagieren. Aber ärgerlich ist es schon, wenn das digitale Endgerät einem an eine Pflicht erinnert, die eigentlich auf Freiwilligkeit basiert. Schließlich war Trinkgeld einst dafür gedacht, besonders gut erledigte Dienste extra zu honorieren.
Doch Corona hat dazu geführt, dass die Trinkgeldgepflogenheiten sich geändert haben. Home Office und das zeitweise Reiseverbot haben der Digitalisierung einen riesigen Schub verliehen. Selbst in Deutschland begleichen mittlerweile 36 Prozent alles mit Karte. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann die Möglichkeit zu tippen sich in einen Online-Vorgang verwandeln würde.
Zugleich schossen mit der Inflation die Trinkgelder ebenfalls nach oben. Schließlich richten sie sich in der Regel nach ungeschriebenen Prozentsätzen. In Deutschland sind zwischen fünf und zehn Prozent der Gesamtrechnung üblich.
In den USA wird seit jeher in der Gastronomie zwischen 15 und 20 Prozent Servicebonus erwartet. Um nicht zu sagen, geradezu gefordert, denn vom dortigen Hungerlohn kann keiner leben. Gesetzlich steht der Bedienung das Minimum von 2,13 US-Dollar pro Stunde zu, wenn diese über Trinkgelder mindestens 30 US-Dollar pro Monat zusätzlich einnehmen können. Die Tablets bzw. Kartenlesegeräte, mit denen heutzutage die Rechnungen online beglichen werden, lassen dem Kunden daher wenig Wahl und viele gastronomische Betriebe fangen sicherheitshalber unter zehn Prozent Minimum-Tip an.
Die New York Times hat eine gewisse „Trinkgeldmüdigkeit“ (tip fatigue) ausgemacht, weil die Inflation insbesondere Lebensmittel und die Gastronomie enorm verteuert hat. Restaurants verlangen Preise, die zusammen mit dem prozentual anteiligen Tip schnell Höhen erreichen, die nicht mehr jeder Gast bereit ist zu bezahlen. Von „Tipflation“ ist gar die Rede. Zugleich erinnern sich viele daran, warum sich einst das Trinkgeld etablierte, und dass der Kunde absolut das Recht hat, es zu verringern oder gar zu verweigern, wenn er findet, dass der Service nicht angemessen war.
Trinkgeldfieber grassiert zudem in Servicebereichen, wo ursprünglich Bakschisch unüblich war. Jede Drive-Thru-Station eines Schnellrestaurants und jede Auto-Waschstraße in den USA erwarten nun Trinkgeld. Seit 2019 erlaubt sogar der US-Billigflieger Frontier der Crew beim Verkauf von Mahlzeiten und Waren an Bord die Trinkgeldannahme. Ein Präzedenzfall, den bisher die sogenannten Full-Service-Airlines strikt ablehnen.
Was das korrekte Trinkgeldverhalten weltweit betrifft, so kommt es auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse, Lohnhöhe und das soziale Sicherheitsnetz vor Ort an. Wem diese Recherche zu mühsam ist, fragt einfach seinen Ansprechpartner vor Ort. Grundsätzlich jedoch bleibt der Extra-Obolus eine freiwillige Leistung, die zugleich – ganz altmodisch – immer noch in barer Münze vergeben werden darf.
Bakschisch ist nur in Ländern kein Thema, wo diese Sitte dank vernünftiger Gehälter nie richtig Fuß fassen konnte oder nicht dem Wertesystem entspricht. In Dänemark, Finnland, Singapur und Neuseeland ist dies der Fall. Auch in Schweden erwartet Servicepersonal kein Geld vom Gast, weil es im Gastgewerbe bereits in der Rechnung enthalten ist. Aber auch in China und Thailand war die Vergabe von Trinkgeld lange unüblich. Erwartet wird sie folglich nur an Orten mit vielen westlichen Besuchern. Ähnlich verhält es sich auch in Südkorea. Geradezu verpönt als westliche Unsitte wird Trinkgeld in Japan, wo makelloser Service vielmehr eine Sache der Ehre ist. Und Ehre kann man bekanntlich nicht kaufen.
(thy)
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