Shenzhen ist das technologische Kraftzentrum Chinas, auch Angela Merkel machte sich schon ein Bild von der Hardware-Schmiede am Fluss. Besuch in einer entfesselten Stadt…
Text: Tamsin Cocks
Inmitten der aufragenden Wolkenkratzer und Glastürme von Shenzhens Futian Central Business District (CBD) steht trotzig eine Siedlung alter Häuser. Die baufälligen Buden von Gangxia werden gern als „Handshake Buildings“ bezeichnet, weil sie so eng beieinanderstehen, dass sich Nachbarn problemlos durchs Fenster die Hände schütteln könnten.
Das urbane Dorf ist voll von kleinen Wohnungen, unabhängigen Läden und Garküchen, es strotzt vor Kraft und Leben. Hier finden auch Einwanderer und Niedriglöhner bezahlbaren Wohnraum, das Essensangebot auf den Straßen reicht von der Hunan- bis zur Sichuan-Küche. In den Geschäften gibt es alles zu kaufen, was der Mensch in seinem langen Leben vielleicht einmal gebrauchen könnte.
Dieses quirlige Viertel ist das letzte seiner Art, alle anderen sind den Veränderungen der vergangenen 40 Jahre zum Opfer gefallen, die Shenzhen von einer Ansammlung traditioneller Fischerdörfer mit rund 30.000 Einwohnern in eine Zehn-Millionen-Metropole verwandelt haben.
Auch Gangxias Tage sind gezählt. Da das Dorf Premium-Flächen im Herzen der Stadt besetzt, bleibt es abzuwarten, bis die boomende City das Viertel absorbiert, wie so viele andere vor ihm. Glück im Unglück für die Eigentümer der maroden Häuser: Die Grundstückspreise in Shenzhen sind in absurde Höhen gestiegen und der Verkauf ihrer Immobilie wird ihnen ein Leben in Reichtum bescheren.
„Wir nennen sie Dörfer der Milliardäre“, witzelt Grace Huang, Marketing Manager des Hilton Futian. „Die Immobilienpreise lagen früher bei 10.000 Chinesischen Renminbi (1.313 Euro) pro Quadratmeter, jetzt haben sie sich auf 100.000 (13.132 Euro) verzehnfacht. Gangxia ist das letzte Dorf, das noch übrig ist, und glaubt man der Regierung, wird es noch 2019, allerspätestens aber 2020 von der Bildfläche verschwinden.“
Während die Entstehung riesiger Städte in atemberaubender Geschwindigkeit keine Seltenheit ist in China, handelt es sich hier doch um einen besonderen Fall. Shenzhen entstand im Jahr 1979 als erste Sonderwirtschaftszone der Volksrepublik und Teil von Deng Xiaopings groß angelegtem Versuch, das Land zu reformieren und weiterzuentwickeln. Dieser Versuch hatte durchschlagenden Erfolg. Die Öffnung für Auslandsinvestitionen und die Annäherung an Hongkong verwandelten die Stadt im Südosten in ein Kraftzentrum der produzierenden Industrie. Wichtige ausländische Fabriken von Foxconn bis Apple siedelten sich an und machten die aufstrebende City zu einem Elektronik-Hub, wo bis zu 90 Prozent aller weltweit verkauften Geräte das Band verließen. So eroberte sich das Konglomerat ehemaliger Fischerdörfer endgültig einen festen Platz auf der Landkarte.