Bewegung zwischen Orient und Okzident – die georgische Hauptstadt erfindet sich gerade neu, mal wieder.
Text: Sabine Galas
Die erste Überraschung wartet gleich hinterm Flughafen: Eine vierspurige Straße führt in die 20 Kilometer entfernte Stadt. Sie ist breit, stark befahren und heißt, aufgemerkt: George W. Bush Street. Der Taxifahrer hat keine Erklärung dafür, auch nicht für das riesige Plakat am Straßenrand, von dem der 43. Präsident der USA hinunterlächelt. Das Porträt sei eine Verneigung vor dem prominenten Besucher, der Tiflis 2005 eine Stippvisite abstattete, ist später zu erfahren, ebenso die Umbenennung des Airport-Zubringers, die nicht alle Georgier mit Begeisterung quittierten. Michail Saakaschwili, von 2004 bis 2013 Präsident Georgiens, tat während seiner Amtszeit einiges, um das Land vom Grau der Sowjetzeit zu entstauben, seither bewegen sich die Georgier mit rasantem Tempo auf den Westen zu, aktuell auch als Beitrittskandidaten der EU. Der jüngste Auftritt des russischen Abgeordneten Sergej Gawrilow im Parlament in Tiflis schürte daher bei vielen Bürgern die Sorge vor einer erneuten Einflussnahme Moskaus in der Ex-Sowjetrepublik. Tausende gingen deshalb auf die Straße, es gab 70 Verletzte.
Die alten Zeiten wünscht sich niemand mehr zurück. Fast 30 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion und dem damit verbundenen Einbruch der Wirtschaft hat sich Georgien erholt, das Wachstum liegt aktuell wieder bei starken 4,8 Prozent*, einer der wichtigsten Wachstumstreiber ist der Tourismus. Mit 8,7 Millionen internationalen Gästen** verbuchte das Land 2018 ein Plus von zehn Prozent, im touristischen Bereich sogar von 17 Prozent. Die meisten Reisenden kommen aktuell noch aus den Nachbarstaaten Russland, Türkei, Aserbaidschan und Armenien, jedoch zeigt die wachsende Zahl an Flugverbindungen aus Europa, dass Tiflis auch beim internationalen Publikum im Kommen ist. Die großen Hotelgruppen sind bereits vor Ort: Marriott und Radisson als frühe Wegbereiter, wobei Radisson gerade nachlegt und sein zweites Hotel für 2021 angekündigt hat. Kempinski baut ein Luxusprojekt, das bereits 2020 eröffnen soll.
Während viele das Land zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer noch auf der Landkarte suchen, ist Tiflis gerade für junge Menschen ein neuer Place-to-be. Die Stadt hat sich in nur wenigen Jahren zur Techno Metropole gemausert, Partygänger stürmen die City an der Kura (georgisch: Mtkwari) wie Berlin nach dem Mauerfall. Auch in Sachen Mode hat sich Tiflis einen Namen gemacht: Der erste georgische Stardesigner Demna Gvasalia ist Kreativchef bei Balenciaga und Chefdesigner von Vetements, die Tbilisi Fashion Week mit Titelsponsor Mercedes-Benz mittlerweile eine feste Größe im Kalender der internationalen Modeszene.
Alles ist in Bewegung, alles mischt sich neu. Das merkt man in den Cafés in der malerischen Altstadt, in den Clubs, an den vielen neuen Läden, an den Häusern, die – liebevoll restauriert oder verfallen und vergessen – um die Vormachtstellung in der multikulturellen Stadt ringen. Glaubt man den Geschichtsbüchern, ist das im vierten Jahrhundert gegründete Tiflis insgesamt 40-mal erobert worden – was den wilden Mix an Baustilen erklärt, die die Stadt bis heute prägen. Maurische Fassaden, ost-orthodoxe Kirchen, Jugendstilbauten oder modernistische Sowjetarchitektur – die Vielfalt ist schier grenzenlos, jeder Stadtbummel ein Abenteuer.
Fährt man mit der Standseilbahn auf den Berg Mtazminda hinauf, ergibt sich das Bild einer wenig homogenen Stadt am Fluss, mit vielen Kirchen, grauen Wohnblöcken und futuristisch anmutenden Neubauten. „Hybrid Tbilisi“ nannte das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt 2018 treffenderweise eine Ausstellung, die es der Stadt widmete anlässlich der Einladung Georgiens als Gastland der letztjährigen Buchmesse.