Andere Länder, anderes Zeitgefühl. Spätestens in den Mittelmeer-Ländern merken viele Dienstreisende, dass Zeit sehr relativ ist.
Jemanden unentschuldigt lange warten zu lassen, wird von vielen geradezu als Affront gewertet. Doch Zeit ist nicht überall gleich. Im Normalfall geht jeder zuerst von seinen Maßstäben aus. Konkret bedeutet das, wer in der Bundesrepublik aufgewachsen ist, setzt immer erst einmal die Normen an, die er kennt.
Folglich wartet er verschnupft auf den Geschäftspartner und ärgert sich wegen der Zeitverschwendung. Fieberhaft wird überlegt, wie die Verspätung sich auf die weiteren Pläne auswirkt. Noch deutscher: Wo könnte man die verlorene Zeit wieder einsparen? So denkt jedoch ein Großteil der Welt überhaupt nicht.
Grundsätzlich stehen sich monochrone und polychrone Zeitkonzepte gegenüber: Einmal die Idee, dass die Zeit linear fortschreitet, also auf den ersten Schritt der nächste folgt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind klar definiert und können präzise geplant werden. Spätestens seit die fleißigen Protestanten dem Rest der Welt eingeredet haben, dass Müßiggang reine Zeitvergeudung ist, drehen sich die Industrienationen im Hamsterrad und haben sich der Effizienz verschrieben. Das Gegenmodell ist die Vorstellung, dass Zeit zirkulär, also im stets wiederkehrenden Rhythmus von Tag und Nacht, Jahreszeiten, Ebbe und Flut etc. vergeht.
Pünktlichkeit in Europa und Nordamerika ist folglich ein guter Indikator für das Niveau von Infrastruktur und Industrialisierung. Deutschland mischt ganz vorne mit, kann aber noch von der Schweiz lernen, wo etwa Züge tatsächlich zum exakt genannten Zeitpunkt an- und abfahren. Wobei es Nuancen unter den Schweizern gibt. Deutschschweizer tendieren eher zur Überpünktlichkeit, während in den romanisch geprägten Teilen des Landes Verspätungen im Minutenbereich problemlos hingenommen werden.
Ebenfalls kaum Probleme in Sachen Pünktlichkeit werden Reisende in Skandinavien, Großbritannien, Kanada und den USA haben. Ist 15 Uhr für die Verabredung ausgemacht, kommen auch alle zu dieser Zeit. Verspätungen im Minutenbereich bei einer privaten Einladung sind zugleich nicht der Rede wert. Unhöflich wäre es nur, zu früh an der Tür zu läuten.
Viel großzügiger wird Termintreue bereits in den mediterranen Ländern gehandhabt. Eine Viertelstunde nach der Zeit nimmt dem Gast kein Franzose oder Italiener übel. Schließlich könnte man ja selbst noch mit etwas beschäftigt sein. Viele Mittelmeerbewohner sind begnadete Multitasker. Zudem werden persönliche Begegnungen nicht eiligst abgebrochen, nur weil die nächste Verabredung wartet. In so einem Fall muss die Effizienz eben warten.
Besonders dehnbar kann die Zeit in Spanien sein, wo sie beinahe schon an arabische Gepflogenheiten grenzt. Dort werden die Tage zwar auch geplant, aber ein Spanier weiß, dass die Zeit sich weiten lässt und notfalls der letzte Termin – falls es wirklich zu spät wird – unkompliziert abgesagt werden kann. Dennoch, diese Entspanntheit gilt nicht im geschäftstüchtigen Katalonien.
Geduld ist für Westeuropäer im Nahen Osten und Nordafrika gefragt. Sich schnell mal den kleinen Teppich als Souvenir auf dem Basar einpacken lassen, geht nicht. „Zeitverschwenderisches“ Handeln ersetzt hier die verpflichtende Preisausschilderung und wird zudem als wichtiges zwischenmenschliches Ritual betrachtet. Einheimische in Asien und Arabien empfinden daher die Besucher aus Deutschland als brüsk, weil sie direkt zum Punkt kommen.
Besonders widersprüchliche Zeitkonzepte existieren in Asien nebeneinander. Während China und Japan in ihren Fabriken auf die Minute getaktete Effizienz auf die Spitze treiben, und in den modernen Millionenmetropolen Asiens das Alltagstempo höher und unerbittlicher als im Westen ist, ticken auf dem Land die Uhren tatsächlich noch langsamer. Das birgt viel Charme für den Betrachter, ist aber für Einheimische nur ein Zeichen mangelnder Infrastruktur und Rückständigkeit.
Doch diese Zeitkontraste wirken sich auf die Pünktlichkeit bei Verabredungen nicht aus. Wer in China oder Japan eingeladen ist, sollte pünktlich erscheinen. Im besten Fall taucht er ein paar Minuten früher auf, damit er nicht zu viel wertvolle Zeit des anderen in Anspruch nimmt.
(thy)
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